von Dr. Philipp Hildmann, Geschäftsführer Bayerisches Bündnis für Toleranz und Mitglied der Landessynode
Nach mehr als 60 Millionen Opfern, die in Schlachten gefallen, in Konzentrationslagern ermordet, in Bombennächten verbrannt oder an Hunger und Kälte gestorben waren, war der Zweite Weltkrieg Anfang April 1945 eigentlich entschieden. Statt aufzugeben, opferten die herrschenden Nationalsozialisten jedoch weitere zahllose Menschenleben, indem sie alle noch verfügbaren alten Männer und halbwüchsigen Kinder einzogen und gegen die heranrückenden Alliierten in den Tod schickten. Ein so grausames wie sinnloses Unterfangen. Am Abend des 29. April erreichten sowjetische Soldaten das Brandenburger Tor. Am 30. April entzog sich Adolf Hitler durch Selbstmord feige seiner Verantwortung. Am 2. Mai war der Kampf um Berlin endgültig zu Ende. Am 7. Mai unterzeichnete der Verantwortliche des Deutschen Reiches im Hauptquartier von General Eisenhower in Reims die bedingungslose Kapitulation der deutschen Wehrmacht. Am 8. Mai 1945 trat diese um 23 Uhr in Kraft. Der Albtraum des 1000jährigen-Reiches war nach zwölf Jahren eines bis dato unvorstellbare Zivilisationsbruches zu Ende, das Deutsche Reich, errichtet auf Abermillionen Toten, Geschichte.,
“Angesichts des Trümmerfeldes, zu dem eine Staats- und Gesellschaftsordnung ohne Gott, ohne Gewissen und ohne Achtung vor der Würde des Menschen die Überlebenden des zweiten Weltkriegs geführt” hatte, wie es später in der Verfassung des Freistaates Bayern heißen sollte, gelang es vielen Menschen zunächst nicht, der Niederlage Positives abzugewinnen. Doch mit der Zeit wuchs auch die Erkenntnis. Und so konnte der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker am 8. Mai 1985 für das Geschehene die seither gültigen Worte finden: Der 8. Mai 1945 sei für die Deutschen zwar kein Grund zum Feiern gewesen, wohl aber ein “Tag der Befreiung” vom menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft.
Die Wiederkehr der Schatten
Manches von dem nationalsozialistischen Gedankengut, das viele Deutsche in einem mitunter äußerst zähen Prozess in den Jahren und Jahrzehnten, die auf den 8. Mai folgten, abstreifen konnten, ist heute wieder in die Mitte unserer Gesellschaft zurückgekehrt. Beispielsweise der Antisemitismus. Über lange Zeit gesellschaftlich geächtet, ist er heute wieder bittere Realität mitten unter uns. Die Hoffnungen haben sich nicht erfüllt, dass das Entsetzen über den millionenfachen Mord an den Juden im Dritten Reich Judenfeindschaft, Antijudaismus und Antisemitismus unmöglich machen würde. Gerade die 2000er-Jahre stehen als Jahrzehnt für einen Wiederaufschwung des Antisemitismus, der uns heute in vielerlei Gestalt begegnet.
Auch andere, genuin aus der Zeit des Nationalsozialismus überkommene Elemente begegnen uns erneut in zunehmender Zahl. Die Schatten kommen wieder. Nicht nur im Gefolge eher marginaler Parteien wie dem III. Weg oder der Heimat. Wir begegnen den Schatten inzwischen auch in unseren Parlamenten.
Deutschland spricht nicht, Deutschland brüllt
Die Grenzen des Sagbaren hin zum Unsäglichen sowie zu einer Verrohung der Debattenkultur verschieben sich. Ob in den Sozialen Medien oder im Plenarsaal – man fühlt sich an den Stoßseufzer des Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier von 2018 erinnert: “Deutschland spricht nicht, Deutschland brüllt.”
Noch einmal Steinmeier: “Über Echokammern und Filterblasen reden wir nun schon recht lange; und offensichtlich wird es immer dringender, Gegenstrategien zu entwickeln. […] Aus gesellschaftlichen Haarrissen sind tiefe Gräben geworden. Wir erleben Wut und Protest auf deutschen Straßen, hin- und herfliegende Empörungsfetzen, Hass und Gewaltausbrüche. […] Natürlich – wenn auch nicht die einzige Erklärung – trägt die digitale Kommunikation ihren Anteil an Verrohung und Enthemmung.” Immer mehr Menschen bestimmter Bevölkerungsgruppen werden zum Ziel von verbalen Attacken und gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit – im digitalen Raum, aber zunehmend auch im realen Leben. Tatsache ist: Die Fallzahlen von Hass und Hetze sind in den letzten Jahren signifikant angestiegen.
Zu wertvoll für Hass
Um zu verhindern, dass aus dem Sagbaren Machbares wird, ist es nicht verkehrt, unmittelbar beim Sagbaren anzusetzen. Das wirksamste Mittel gegen Hass und Hetze ist es, hinzuschauen, hinzuhören und Zivilcourage zu zeigen. Das betrifft auch und gerade den digitalen Raum.
Das 2005 gegründete “Bayerische Bündnis für Toleranz – Demokratie und Menschenwürde schützen”, das mit 94 Mitgliedsorganisationen inzwischen als das größte bayernweite Netzwerk aus Vertretern von Staat, Zivilgesellschaft und Religionsgemeinschaften gegen Rechtsextremismus, Antisemitismus und Rassismus gilt, hat daraus ein Schwerpunktthema gemacht. Herzstück ist 2024/2025 eine Online-Kampagne gegen Hass und Hetze im Netz, die soeben gestartet wurde (www.bayerisches-buendnis-fuer-toleranz.de). “Geben wir Hass keinen Raum”, so ELKB-Landesbischof Christian Kopp, der zugleich der Sprecher des Bündnisses ist. “Nicht in uns. Nicht in unserem Umfeld. Nicht als Betroffene. Nicht als Täter. Wir alle sind zu wertvoll für Hass!”
Wir dürfen uns nicht einschüchtern lassen. Dafür ist unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung, wie sie aus dem “Trümmerfeld” des Zweiten Weltkriegs heraus so positiv erwachsen ist, dass wir heute vom 8. Mai tatsächlich als einem “Tag der Befreiung” sprechen können, schlicht zu wichtig. Wir müssen und werden alles tun, um unsere Demokratie zu verteidigen. Auch und gerade im digitalen Raum.
In kurzen Videoclips kommen deshalb bei dieser Kampagne mit dem Hashtag #zuwertvollfuerhass Menschen zu Wort, die von digitaler Hasskriminalität betroffen sind und etwas gegen diesen Hass unternehmen wollen. Die Reihe will aufmerksam machen, welch erschreckendes und demokratiegefährdendes Ausmaß diese Entwicklung inzwischen angenommen hat, die Privatpersonen jeglichen Alters ebenso betrifft wie Personen des öffentlichen Lebens. Zugleich macht die Kampagne uns allen Mut, diesen Hass nicht passiv zu erdulden, sondern gemeinsam zu bekämpfen. Raus aus der Opferecke, rein ins Handeln! Als eine Möglichkeit wird eine Landingpage des Bayerischen Staatsministeriums der Justiz angeboten (www.bayern-gegen-hass.de), auf der man verschiedene Anlaufstellen findet, an die man sich wenden kann.
Wir alle sind zu wertvoll für Hass. Das war die Botschaft, die mitgeholfen hat, unsere Demokratie nach dem Zweiten Weltkrieg aufzubauen. Das ist die Botschaft, der wir heute wieder eine Stimme verleihen müssen, um diese Demokratie auch zu erhalten.
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