Über die seelsorgliche Tiefentextur des ELKB-Trauerportals „Gedenkenswert“
von Dr. Rainer Liepold, Pfarrer Evang.-Luth. Kirche in Bayern | veröffentlicht am 20. November 2023
Nach dem Tod eines geliebten Menschen sind die Hinterbliebenen in besonderer Weise vulnerabel. Dadurch werden sie zur Zielgruppe von Begleitangeboten, die sowohl einen karitativ-zivilgesellschaftlichen als auch einen kommerziellen Hintergrund haben können. Die Anbahnung und Pflege von Beziehungen erfolgt dabei heute immer öfter über das Internet. Zu diesem Zweck ist eine wachsende Zahl digitaler Plattformen für Trauernde entstanden. Deren zunehmende Verbreitung und Inanspruchnahme führen dazu, dass zwei von drei Todesfällen in Deutschland inzwischen einen digitalen Nachhall haben. Doch was sind das für Angebote? Welche Motive verfolgen die Seitenbetreiber? Wie verändert sich dadurch unsere Trauerkultur?
Die ersten Anbieter von digitalen Gedenkportalen waren die Zeitungsverlage. Seit über zehn Jahren stellen sie die bei ihnen beauftragten Todesanzeigen parallel auch online. Dabei wurden über die papierne Variante hinausgehende neue Interaktionsmöglichkeiten geschaffen. Ähnlich verfahren die Bestatter: Immer häufiger bieten sie hauseigene Portale zur Pflege von Erinnerungen an. Oft sind Fotos, die bei der Bestattung gemacht wurden, der Aufhänger, um die Angehörigen für einen Ausbau einer individuell gestalteten Erinnerungsseite zu gewinnen. Einige freie Trauerredner*innen stellen dafür auch die Grabrede – gelegentlich sogar als Video – zur Verfügung.
Darüber hinaus gibt es in den Sozialen Medien zahlreiche digitale Trauergruppen. Dabei bietet sich vor allem Facebook für den Austausch an. Hier gibt eine Reihe von Gruppen mit mehreren tausend Mitgliedern: Im September 2023 gehörten zum Beispiel 28.500 Menschen der Gruppe „Trauersprüche und Bilder“, 15.300 Mitglieder hatte die Gruppe „Trauer“.
Viele der erfolgreichen Angebote sind kommerziell motiviert
Die steigende Bereitschaft Trauernder, sich auf digitale Angebote einzulassen, hat kommerziell motivierte Akteure auf den Plan gerufen. In den Facebook-Trauergruppen bieten Wahrsager*innen, Medien, Geistheiler*innen und freie Trauerbegleitende ihre Dienste an. Häufig sind es die Initiator*innen und Administrator*innen der Gruppen selbst, die sich als latent kommerziell motiviert erweisen. Dass Zeitungsverlage und Bestatter mit ihren Online-Aktivitäten wirtschaftliche Interessen verfolgen, ist offenkundig. Einerseits verkaufen sie zielgruppenorientiert Werbefläche, zum Beispiel für Anwaltskanzleien, die auf Erbrecht spezialisiert sind. Andererseits nutzen sie ihre Portale im Sinne einer „customer journey“: Das Interesse an einem Todesfall binden sie so in ihre Webpräsenz ein, dass sie über die Erinnerungsseite ihr gesamtes Angebotsportfolio präsentieren und Kundenbindungen aufbauen und pflegen.
Mit der Digitalisierung des Todes lässt sich Aufmerksamkeit erzielen und Geld verdienen. Doch im deutschsprachigen Raum sind die darin erfolgreichen Firmen derzeit noch eher selten originär der Digitalbranche zuzuordnen. Aktiv werden vielmehr die Unternehmen, die auch schon in prädigitalen Zeiten Geschäfte mit dem Tod gemacht haben.
Ein Geschäftsmodell mit Zukunftspotential
Die derzeitigen Angebote schöpfen allerdings die Möglichkeit, mit der Sterblichkeit Geschäfte zu machen, bei weitem noch nicht aus. In den USA, in Südkorea und China sind es aktuell vorrangig die großen Digitalkonzerne und Startups, die aus der Digitalbrache stammen, die den Tod als Geschäftsmodell entdecken. Sie gehen dabei davon aus, dass man aus den Daten, die die Toten hinterlassenen, etwas machen kann. Mit hohem Kapitaleinsatz wird der Plan verfolgt, verstorbene Menschen in Form eines Bots auferstehen zu lassen.
Textbotschaften von Toten, die zu Lebzeiten viel gechattet haben, lassen sich heute bereits in erstaunlicher Authentizität klonen. “When your heart stops beating, you´ll keep tweeting” wirbt das Startup-Unternehmen „LivesOn“, das digitale Klone erstellt: “Du twitterst einfach weiter, auch wenn dein Herz zu schlagen aufhört!”
Die Bots von Verstorbenen werden immer lebensechter. So hat zum Beispiel das koreanische Startup „Vive Studios“ einen digitalen Klon der im Alter von sieben Jahren verstorbenen Nayeon erstellt. Mit Hilfe einer Virtual-Reality-Brille entstand ein dreidimensionales Bild der Toten und durch VR-Handschuhe wurde sogar der Austausch von Zärtlichkeiten möglich. 18 Millionen koreanische Fernsehzuschauer waren in einer Life-Sendung Zeuge, wie die Mutter des verstobenen Mädchens erstmals auf deren digitale Kopie traf.
Warum geben die Digitalkonzerne für solche Projekte Unmengen Geld aus? Die Antwort lautet wohl, dass wir vor einem Quantensprung mit Blick auf die kapitalistische Bewirtschaftung des Todes stehen. Denn die Bots von Verstorbenen bergen einerseits das Potential, Abonnements zu verkaufen. Andererseits können sie Werbebotschaften in nie dagewesener Intensität vermitteln: Wer ist schon gegen eine Empfehlung immun, die ein innig betrauerter Verstorbener ihm gibt?
Trauer: Warum der Markt alleine es nicht richtet
Eine fachlich fundierte trauertherapeutische Tiefentextur oder gar nachgehende Seelsorge ist auf den kommerziell motivierten Portalen nicht zu finden. Das sich dies mit Risiken für die vulnerable Zielgruppe verbindet, zeigen zum Beispiel die unreflektierten Reaktionen auf User/innen, die Suizidgedanken äußern.
Selbst die innovativsten technischen Lösungen können letztendlich Fachwissen und authentische Zuwendung nicht ersetzen. Das wird sehr schnell offenkundig, wenn man sich zum Beispiel in einen Austausch mit „Eve“, dem Trauerchatbot des vielbesuchten Portals „Gedenkseiten“ begibt: Die KI-animierte Dame erweist sich schnell als sich in Stereotypen ergehende Phrasenschleuder.
Dabei birgt digitale Kommunikation durchaus große Chancen für die gesunde Bewältigung eines Abschiedes. Der Zugang zu den entsprechenden Foren ist niedrigschwellig und der Ton in ihnen durchgängig um Verständnis bemüht. So erstaunt es nicht, dass viele Menschen dann intensiv und oft über einen längeren Zeitraum hier den Austausch suchen und diesen als hilfreich erleben. Aus diesem Grund ist es geboten, dass auch die Kirchen mit ihrer kulturellen Kompetenz im Umgang mit dem Tod, der großen Palette von Begleitangeboten und dem Deutungspotentialen der christlichen Glaubenshoffnung für Trauernde im digitalen Raum erlebbar werden Sonst laufen wir in Gefahr, dass die Digitalisierung die Trauer dahingehend verändert, dass die Trauernden nur noch als Kund*innen und die Toten nur noch als Datenlieferanten in den Blick genommen werden.
Wie das ELKB-Portal „Gedenkenswert“ Trauernde unterstützt
Seit im März 2021 ist die ELKB mit dem Trauer- und Erinnerungsportal „Gedenkenswert“ erfolgreich online. Dabei wollen wir nicht nur ein reichweitestarkes Angebot etablieren, sondern dieses auch mit einer reflektierten seelsorglichen Textur zu verstehen.
Auf dem Portal berichten Menschen davon, inwiefern ihr Trauerweg für sie zugleich auch zum Lernweg wurde. Sie erzählen, wie sie sich nach dem Verlust einer engen Bezugsperson neu orientieren mussten und was ihnen dabei geholfen hat. Sie benennen Ressourcen des Trostes und der Hoffnung. Dabei kann auch das Erzählen der Lebensgeschichte des verstorbenen Menschen durch die Trauer helfen. Denn wir tun dies in der Regel so, dass wir mit ihm und seinem Tod unseren Frieden machen können. Der Trauerexperte George A. Bonanno spricht in diesem Zusammenhang von „selbstwertdienlichen Verzerrungen“, die die Trauenden stärken, weil sie eine „Hinwendung zum Positiven“ ermöglichen, d.h. eine positive Deutung der eigenen Rolle unterstützen. Nicht zu unterschätzen ist dabei die Anteilnahme, die Trauernde im Netz erfahren. Virtuelle Kerzen und Kondolenzbotschaften zeigen ihnen, dass sie mit ihren Gefühlen und Erinnerungen nicht alleine sind.
„Gedenkenswert“ bringt das Hoffnungspotential christlicher Glaubensüberzeugungen und die kirchlichen bzw. zivilgesellschaftlichen Angebote für Trauende ins Gespräch. Dafür haben wir inzwischen über 80 Seelsorgende, Trauerinitiativen und Hospizvereine als Kooperationspartner gewonnen.
Darüber hinaus ist „Gedenkenswert“ auch ein Lern- und Experimentierfeld für einen wichtigen Themenbereich der digitalen Zukunft unserer Kirche. Durch eine Analyse des Nutzungsverhaltens und mit Hilfe des fachlichen Feedbacks unserer Kooperationspartner entwickeln wir das Portal laufend weiter. In diesem Zusammenhang haben wir im Oktober 2023 zwei neue Funktionen in das Portal integriert.
Neue Funktionen: Trauerjahr-Guide und Abschiedsalben für hybride Bestattungen
Erstens bieten wir einen „Trauerjahr-Guide“ an: Hinterbliebene können einen digitalen Begleiter abonnieren, der aus sieben per Mail versandten Impulsen für das erste Jahr nach dem Verlust besteht. Jede dieser Impulsmails besteht aus drei Teilen: Erstens ein Denkanstoß, der von der aktuellen Trauerforschung inspiriert ist. Zweitens eine Einladung zur Selbstreflexion durch eine Übung. Und drittens ein Gedanke, der das Hoffnungspotential des christlichen Glaubens zu Sprache bringt. Zahlreiche Verlinkungen zu inhaltlich vertiefenden anderen Angeboten helfen den User*innen, sich die digitale Trauerlandschaft zu erschließen. Wir laden im Sinne einer „customer journey“ dazu ein, eine Auswahl guter seelsorglich reflektierte Digitalangebote zu entdecken, die von kirchlichen und andere zivilgesellschaftlich motivierten Akteuren erstellt werden.
Zweitens reagieren wir auf das wachsende Bedürfnis, Bestattungen in hybrider Form zu gestalten. Wir bieten den Angehörigen die Möglichkeit, vor der Trauerfeier durch das Hochladen von Erinnerungen ein „Abschieds-Album“ zu gestalten. Dieses kann dann am Friedhof online von der Trauergemeinde betrachtet und in die Gestaltung der Bestattung einbezogen werden. Die Vorkonfiguration dieser Abschieds-Alben haben wir so gestaltet, dass ihre Präsentation für die bestattende Pfarrer*innen gut handhabbar ist. Auch auf eine trauerspezifische Ästhetik, die Komptabilität zur Liturgie und die besonderen Sensibilitäten bei der sozialen Interaktion von Trauernden wurde geachtet.
Bei ca. 70% der Sterbefälle in Bayern gibt es inzwischen eine digitale Variante in der Begehung der Trauer. Dabei greifen oft die digitale und die analoge Kommunikation ineinander, indem sie einander anbahnen, vertiefen oder verstetigen. Das ELKB-Trauerportal „Gedenkenswert“ trägt dem Rechnung. Die hohen und kontinuierlich steigenden Zugriffszahlen zeigen, dass das Vertrauen, das unserer Kirche im Umgang mit der Sterblichkeit entgegengebracht wird, auch im digitalen Raum besteht.
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