von Birgit Knatz, Telefonseelsorge | veröffentlicht am 2. Oktober 2023

In einer digitalisierten Welt erweiterten sich auch die Kommunikationsformate in der Seelsorge: Traditionelle Gespräche werden durch Messenger, Mails, Chats und Videos erweitert. Der Beitrag gibt einen Einblick in die verschiedenen Formate mit ihren eigenen Besonderheiten.

1. Digitale-Seelsorgeformate

Durch das Internet hat sich unsere Art zu kommunizieren grundlegend gewandelt. Mailen, Chatten, Sprachnachrichten und Videos sind mittlerweile fest verankert in unserer Kommunikation und es ist naheliegend, diese Kommunikationsmittel auch in die Seelsorge zu integrieren.

1995 hat die TelefonSeelsorge Pionierarbeit geleistet und die Brücke geschlagen zwischen herkömmlichen Telefongesprächen und den digitalen “Gesprächen” per Chat und Mail. Es ist erstaunlich zu erleben, wie diese Online-Formate es der TelefonSeelsorge ermöglichen, mehr Menschen, vor allem jüngere zu erreichen und auch eine emotionale Verbindung zu schaffen um mit Menschen in Kontakt zu kommen.

Wie hat sich die digitale Kommunikation in den letzten Jahren innerhalb der Seelsorge entwickelt? Wie nutzen Seelsorgende heute diese Werkzeuge, um Menschen zu erreichen, zu berühren und zu unterstützen? Lassen Sie uns gemeinsam eintauchen in die Welt der schriftbasierten Seelsorge, der Begleitung per Video und Sprachnachrichten. Ich werde Ihnen die Nuancen und Feinheiten der Onlineseelsorge näherbringen und Ihnen Tipps und Einblicke geben, wie Seelsorgende diese Kommunikationsformen nutzen können. Alle Formate sind bedeutend für die Seelsorge, denn sie dienen dazu, dass Menschen sich mitteilen. Jedes Format fordert andere Schwerpunkte in Sprache und Verhalten. Begleiten Sie mich und entdecken Sie in den nachfolgenden Beispielen, wie die Digitalisierung die Seelsorge neugestaltet hat.

2. Der Austausch via Messenger

Die 14-jährige Konfirmandin Lisa* steckt in einer kritischen und schmerzhaften Lebensphase. Ihr Vater ist gewalttätig geworden, und sie weiß nicht, wohin sie sich wenden soll. Eines Abends, nachdem ihr Vater sie wiederholt geschlagen hat, fühlt sich Lisa besonders isoliert und verängstigt. Sie denkt an ihre Pfarrerin, die ihr bei der Konfirmationsvorbereitung immer wieder versichert hat, da zu sein, wenn sie jemanden zum Reden braucht. In ihrer Not greift Lisa zu ihrem Handy und öffnet den Messenger und schreibt:

Lisa: Hi, Pfarrerin Schmidt ?, es tut mir leid, Sie so spät zu stören ?. Ich habe ein Problem und weiß nicht, mit wem ich sonst darüber sprechen soll.

Pfarrerin Schmidt: Hallo Lisa, ich bin für dich da ?. Du kannst mir alles erzählen.

Lisa: Ich weiß nicht, wie ich anfangen soll… Mein Vater… er hat mich geschlagen ?. Und das nicht zum ersten Mal. Ich habe solche Angst ?.

Pfarrerin Schmidt: Liebe Lisa, es tut mir so leid, dass du das durchmachen musst ?. Du solltest nicht in einer solchen Situation sein…

…Kannst du sicher irgendwohin gehen? Gibt es jemanden, dem du vertraust und bei dem du sein kannst? ?

Lisa: Ich bin jetzt in meinem Zimmer ?. Die Tür ist abgeschlossen ?. Aber ich fühle mich nirgends sicher ?. Meine Mutter versucht ihr Bestes, aber sie hat auch Angst.

Pfarrerin Schmidt: Es ist wichtig, dass du jetzt sicher bist, Lisa ?. Wenn du dich dazu in der Lage fühlst, solltest du vielleicht in Betracht ziehen, die Polizei zu informieren. Aber ich verstehe auch, wenn das gerade zu viel für dich ist…                                                                                  

…Wenn du möchtest, können wir uns morgen treffen und gemeinsam überlegen, was die besten nächsten Schritte sind. Du bist nicht allein ❤️.

Lisa: Danke, Pfarrerin Schmidt ?. Ich weiß gerade nicht, was ich tun soll, aber es hilft, zu wissen, dass jemand da ist. Ich möchte Sie morgen treffen.

Pfarrerin Schmidt: Wenn du dich bedroht fühlst, zögere nicht, Hilfe zu suchen ?. Du bist stark und tapfer ?, und ich bin froh, dass du dich gemeldet hast ❤️.

So beginnt ein Dialog zwischen Lisa und ihrer Pfarrerin über den Messenger, welcher Lisa Trost, und praktische Hilfe bietet. Die Pfarrerin kann gut auf Lisa eingehen und nutzt die vertrauten Kommunikationswege, die Lisa kennt und schätzt. Dieses Beispiel zeigt, wie schriftbasierte Seelsorge gerade für Jugendliche in Not eine unmittelbare und zugängliche Hilfe darstellen kann.

Besonderheiten der Messenger-Chat-Kommunikation

Chatten ist eine hybride Form von gesprochener und geschriebener Sprache. Inhalte werden kurz und knapp auf den Punkt gebracht, es gibt nicht viel Zeit, über eine Nachricht nachzudenken, denn nichts ist leidiger, als mehr als eineinhalb Minuten auf die Antwort zu warten. Daher ist Schnelligkeit beim Tippen von zentraler Bedeutung, während Zeichensetzung und Rechtschreibung hintenangestellt werden können, um das schriftliche Gespräch “im Flow” zu halten. Im Chat sind wir allein auf die Worte beschränkt, es fehlen Stimme und Körpersprache als Informationsquellen um diese zu ergänzen oder zu korrigieren. Daher kann es im Chat häufiger zu Missverständnissen kommen.

Fasse dich kurz

Im Chat wird nur das Nötigste kommuniziert, denn Schreiben ist zeitaufwändiger als Sprechen. Die Reduktion der Information auf das Wesentliche lässt Raum für Interpretationen und kann Verunsicherung schaffen. Bitte fragen Sie nach, wenn Sie etwas noch nicht verstanden haben und interpretieren es nicht.

Emoticons

Für seelsorgende und beratende Menschen, die ihre Fähigkeiten im auditiven Bereich haben und der Klangfarbe und Modulation vertrauen, um Bedeutungen zu verstehen und Emotionen zu spüren, ist Chatten eine Herausforderung. So ist es hilfreich Ausdrucksmittel wie Smileys, Akronyme, Soundwörter oder Inflektive zu nutzen. Diese vereinfachen die Kommunikation und Emotionen werden leichter rübergebracht. Zudem machen sie eine Botschaft emotional wärmer und helfen, Missverständnisse zu vermeiden. Trotz ihrer wichtigen Funktion im Chat, glauben viele Seelsorgerinnen und Seelsorger, dass diese Ausdrucksmittel nur für private und informelle Gespräche geeignet sind. Das stimmt nicht. Eine Chatsprache, die Emoticons verwendet, macht die Kommunikation lebendiger und persönlicher.

Chunking

Ebenfalls hilfreich ist es den Text möglich kurz zu halten und längere Inhalte aufzuteilen. Chunking nennt man das und es basiert auf dem psychologischen Konzept, bei dem Informationen in kleinere, leichter verarbeitbare Teile unterteilt werden. Es erleichtert das Verstehen und auch das Merken von komplexen Informationen. Wir kennen das, wenn wir uns eine Nummer in Teilnummern aufteilen, um sie uns besser zu merken. Beim Chatten hilft das Aufteilen in Chunks dabei, die Aufmerksamkeit zu erhöhen und das Verstehen zu erleichtern.

3. Virtuelle Nähe in Zeiten der Trauer: Gespräche über Zoom

Heute sind Familien häufig weit verstreut und die digitale Kommunikation wird zu einem Bindeglied. Das folgende Beispiel zeigt, wie auch eine Videokonferenz in Zeiten der Trauer unterstützen kann.

Die Familie trauert um die kürzlich verstorbene Mutter. Der Ehemann, die erwachsenen Kinder und die Geschwister leben in verschiedenen Städten und haben sich zuletzt bei der Beerdigung gesehen. Im Vorfeld hatten sie sich gemeinsam mit dem Pfarrer via Zoom für die Vorbereitung der Beerdigung getroffen. Nun, nach sechs Wochen, wünschen sie sich nochmal mit dem vertrauten Pfarrer über ihre Gefühle zu sprechen und Unterstützung in ihrer Trauer zu finden.

Der Pfarrer schlägt wieder ein gemeinsames Trauergespräch über Zoom vor, damit alle Familienmitglieder teilnehmen können, unabhängig davon, wo sie sich gerade befinden. An einem vereinbarten Termin loggen sich die Familienmitglieder aus verschiedenen Städten innerhalb Deutschlands und aus Kanada in das Zoom-Meeting ein. Der Seelsorger leitet das Gespräch einfühlsam und ermöglicht es der Familie, ihre Gedanken und Gefühle zu teilen, Erinnerungen an die Mutter, Ehefrau und Schwester auszutauschen und gemeinsam zu trauern. Die virtuelle Versammlung bietet ein Gefühl der Nähe und Gemeinschaft, trotz der physischen Entfernung. Der Pfarrer spricht tröstende Worte, die der Familie Kraft geben und ihnen helfen, den Verlust zu verarbeiten und stellt über das Zoom-Tool “Bildschirmteilen” ein Gebet ein, welches sie gemeinsam laut lesen. Zum Schluss des Gespräches können sich die Angehörigen das Gebet downloaden.

Dieses Beispiel illustriert, wie die Videokonferenztechnologie nicht nur die logistischen Herausforderungen einer weit verstreuten Familie überbrücken kann, sondern auch ermöglicht, dass heilende Gespräche in einer Zeit der Trauer stattfinden können.

Charakteristika von Zoom

Bei der Nutzung von Zoom, einem weitverbreiteten Videokonferenz-Tool, sind verschiedene Aspekte zu beachten, um eine qualitativ hochwertige Kommunikation sicherzustellen. Insbesondere für Seelsorgende, die den Dienst für seelsorgerische Gespräche nutzt, spielen Technik, Vorbereitung und Präsentation eine zentrale Rolle. Hier sind einige wichtige Charakteristika und Empfehlungen:

  • Es ist es wichtig, ein Videotool anzubieten, mit dem Sie sehr gut vertraut sind und die Technik kennen. Die Qualität und Zuverlässigkeit der Technologie beeinflussen den Kontakt.
  • Seelsorgerinnen und Seelsorger müssen sicherstellen, dass sie selbst eine stabile Internetverbindung haben, eine gut positionierte Kamera und ein leistungsfähiges Mikrofon.
  • Im Vorfeld sollten alle Beteiligten ihre Handynummern austauschen, so dass zur Not auch eine Teilnahme über das Smartphone möglich sein kann, falls die Internetverbindung abbricht.
  • Die Seelsorgerin oder der Seelsorger wählen einen angemessenen Ort für die Videokonferenz, schalten störende Hintergrundgeräusche aus und hängen ein “Nicht stören”-Schild an die Tür.
  • Alle Formen des Multitasking, beeinträchtigen das Vertrauensverhältnis.
  • Zudem ist es selbstverständlich ordentliche Kleidung zu tragen und auffällige Muster oder Farben, die die Bildqualität beeinträchtigen könnten, zu vermeiden.
Kommunikation und Interaktion

Für eine effektive und natürliche Kommunikation und Interaktion während einer Videokonferenz sind sowohl technische Aspekte als auch das eigene Verhalten vor der Kamera von entscheidender Bedeutung. Hier sind einige Tipps, um dies zu gewährleisten:

  • Die Webcam sollte für eine optimale Perspektive auf Augenhöhe sein.
  • Eine externe Kamera ist in der Regel besser als die eingebaute Laptop-Kamera.
  • Halten Sie Augenkontakt und schauen Sie direkt in die Kamera.
  • Vermeiden Sie ständiges Starren; blinzeln und schauen Sie gelegentlich weg, um das Gespräch natürlich zu gestalten.
Persönliches Wohlbefinden und Professionalität

Um in Videokonferenzen sowohl professionell als auch psychisch ausgeglichen zu wirken, ist es von Belang auch auf das persönliche Wohlbefinden zu achten.

  • Nehmen Sie sich vor und nach der Videokonferenz Zeit für eine mentale Vorbereitung und Nachbereitung.
  • Videoberatungen sind oft anstrengender als persönliche Treffen. Dies liegt zum einen an auftretenden technischen Problemen und, dass das Sprechen vor der Kamera ein aktiveres Engagement und damit mehr Energie erfordert. Dies sollte bei der Planung berücksichtigt werden.
  • In Video-Beratungen sehen wir uns ständig selbst, was zu Selbstkritik und Unsicherheit führen kann. Dies ist anstrengend und erfordert Übung oder eine Technik, um die Selbstansicht zu deaktivieren.
Videokonferenz-Tools

Bei der Auswahl des idealen Videokonferenz-Tools spielen verschiedene Faktoren eine Rolle, von der Nutzerfreundlichkeit bis hin zur Sicherheit. Nach ausgiebigen Tests, u.a. mit den älteren ehrenamtlichen Mitarbeitenden der TelefonSeelsorge, und Vergleichen verschiedener Plattformen habe ich festgestellt, dass Zoom in vielen dieser Kategorien richtig gut abschneidet:

  • Einfacher Einstieg: Nutzende können innerhalb weniger Minuten einen Account erstellen und ein Meeting starten oder daran teilnehmen. Ein Download ist möglich, Meetings können aber auch direkt im Webbrowser gestartet und es kann auch direkt im Webbrowser beigetreten werden.
  • Intuitive Benutzeroberfläche: Die Benutzeroberfläche ist intuitiv gestaltet, was es für neue Userinnen und User einfacher macht, die notwendigen Funktionen zu finden und zu nutzen.
  • Stabile Verbindung: Zoom hat in Tests gezeigt, dass es auch bei schwächeren Internetverbindungen stabil läuft. Dies macht es zuverlässig, auch in Gebieten mit einem instabilen Netzt.
  • Vielseitigkeit: Zoom ist sowohl für Einzelgespräche als auch für größere Meetings geeignet. Es bietet auch Funktionen wie Breakout-Räume, die es den Teilnehmenden ermöglichen, in kleinere Gruppen aufgeteilt zu werden.
  • Funktionen für die Zusammenarbeit: Neben der Videokonferenz bietet Zoom auch Funktionen wie Bildschirmfreigabe oder Whiteboarding.
  • Sicherheitsfunktionen: Trotz anfänglicher Sicherheitsbedenken hat Zoom seine Sicherheitsfunktionen erweitert und verbessert, einschließlich Ende-zu-Ende-Verschlüsselung und Meeting-Schutzmaßnahmen, zudem ist es möglich die Standorte der Server einzustellen und ausschließlich europäische Standorte zu wählen.
  • Flexible Preisoptionen: Zoom bietet eine kostenlose Version sowie verschiedene Bezahlmodelle, die es für Einzelpersonen und Organisationen jeglicher Größe erschwinglich machen.

Je nach individuellen Bedürfnissen und Vorlieben gibt es auch noch andere Plattformen wie Microsoft Teams, Google Meet oder Cisco Webex.

4. Mailen: Nähe trotz Distanz

Eva, eine 32-jährige Frau, kämpft seit einigen Jahren mit Depressionen und Angstzuständen. Ihre Arbeit und die damit verbundenen sozialen Anforderungen belasten sie stark. Eines Tages stößt sie auf die TelefonSeelsorge im Internet (OnlineSeelsorge), die Unterstützung per Mail anbietet. Da Eva sich schwer damit tut, persönlich oder telefonisch über ihre Gefühle zu sprechen, erscheint ihr diese Option als ideale Lösung. Mit zögernden Fingern tippt sie ihre erste Mail: “Hallo, mein Name ist Eva, und ich habe das Gefühl, dass mir alles über den Kopf wächst. Ich weiß nicht, wie ich mit meiner Arbeit, meinen Ängsten und meiner Depression umgehen soll. Können Sie mir helfen?”

Innerhalb von 48 Stunden erhält Eva eine einfühlsame Antwort einer Seelsorgerin:

Liebe Eva,

danke, dass Sie sich an uns gewendet haben. Mein Name ist Katja und ich antworte Ihnen gerne. Zunächst einmal tut es mir leid zu lesen, dass Sie sich so fühlen.

Ich bin froh, dass Sie diesen Schritt gemacht haben und an die OnlineSeelsorge geschrieben haben und Sie hier einen sicheren Raum haben, um über das zu schreiben, was Sie belastet. Wie ging es Ihnen beim Schreiben? Konnten Sie sich “Ein wenig von der Seele schreiben?”

Es ist völlig in Ordnung, sich überfordert zu fühlen, insbesondere, wenn man, wie Sie, mit so vielen Herausforderungen wie Arbeit, Depressionen und Ängsten konfrontiert ist. Manchmal kann es schon helfen, einfach darüber zu schreiben, sich dabei zu reflektieren, sich wieder Luft zu verschaffen und zu wissen, dass jemand da ist, der zuhört und versteht. Liebe Eva, um Sie besser zu verstehen, wäre es hilfreich, wenn Sie mir konkrete Situationen schildern, die Sie besonders belasten und über Dinge, die Sie vielleicht schon ausprobiert haben, erzählen, um sich besser zu fühlen.

Ich kann Ihnen anbieten, Sie zu unterstützen und mit Ihnen zusammen Wege zu finden, wie Sie mit Ihren Herausforderungen umgehen können. Ist es das, was Sie sich von mir wünschen? Oder haben Sie andere Vorstellungen?

Ich freue mich darauf, von Ihnen zu lesen und antworte Ihnen immer donnerstags, da ist mein “Onlinetag”. Bis dahin schicke ich Ihnen liebe Grüße,

Ihre Katja

Liebe Katja,

zuerst möchte ich mich herzlich für Ihre Antwort bedanken. Es war für mich wirklich schwer, den ersten Schritt zu machen und überhaupt diese Mail zu schreiben, aber Ihre Worte haben mir das Gefühl gegeben, richtig gehandelt zu haben.

Beim Schreiben der ersten Nachricht war ich sehr nervös und unsicher. Ich habe mich oft dabei ertappt, wie ich alles wieder löschen und einfach weitermachen wollte wie bisher. Aber irgendwie hat mich eine innere Stimme dazu gedrängt, mich zu öffnen. Nach dem Absenden der Mail fühlte ich mich einerseits erleichtert, andererseits aber auch sehr verletzlich. Doch Ihre Antwort hat mich bestärkt und mir geholfen, mich weniger allein zu fühlen.

Die Situation auf meiner Arbeit ist besonders schwierig. Ich habe das Gefühl, dass ich ständig beurteilt und beobachtet werde. Meine Kollegen scheinen alle so selbstsicher und zufrieden, während ich mich oft wie eine Außenseiterin fühle. Ich habe oft das Gefühl, nicht gut genug zu sein, was meine Ängste und meine Depression noch verstärkt.

Um mit meinen Gefühlen umzugehen, habe ich schon verschiedene Dinge ausprobiert, wie z.B. Meditation oder Yoga. Aber ich habe Schwierigkeiten, dabei konsequent zu bleiben, und oft überwältigt mich die Dunkelheit erneut.

Ihre Frage, ob ich mir eine Unterstützung von Ihnen wünsche, beantworte ich mit einem klaren Ja. Ich würde gerne gemeinsam mit Ihnen Wege finden, besser mit meiner Situation umzugehen und vielleicht auch mehr über mich selbst herauszufinden.

Ich danke Ihnen von Herzen für Ihre Zeit und Ihre Unterstützung. Es bedeutet mir wirklich viel, und ich freue mich darauf, nächsten Donnerstag wieder von Ihnen zu lesen.

Mit herzlichen Grüßen

Eva

In den folgenden Monaten entwickelt sich ein regelmäßiger Mail-Dialog zwischen Eva und der Seelsorgerin. Die Mails bieten Eva einen Raum, in dem sie ihre Gedanken, Ängste und Herausforderungen in ihrem eigenen Tempo und auf ihre eigene Art ausdrücken kann. Die Seelsorgerin antwortet, gibt Feedback, stellt Fragen und bietet Unterstützung.

Evas Zustand verbessert sich langsam dank der fortwährenden Unterstützung und des Vertrauens, das durch die Mail-Kommunikation aufgebaut wurde. Für Eva wird die Mail-Seelsorge zu einer lebensverändernden Erfahrung, die ihr hilft, ihre Probleme zu verstehen und Strategien zu entwickeln, um mit ihnen umzugehen.

Dieses Fallbeispiel unterstreicht die vielfältigen Möglichkeiten, die die digitale Seelsorge bietet, auch für Menschen, die Schwierigkeiten haben, persönliche oder telefonische Unterstützung in Anspruch zu nehmen. Die Mail-Seelsorge kann eine diskrete, flexible und zugängliche Alternative bieten, um Menschen in Not zu erreichen und zu unterstützen.

Schreiben statt Sprechen – Lesen statt Hören

Mailen ist ein asynchrones Beratungsformat und kommt unserer Zeitautonomie entgegen. Mailen bietet ein Setting, welches nicht auf 45 oder 60 Minuten begrenzt ist: Ratsuchende (und Seelsorgende) können, ohne auf eine zeitliche Begrenzung achten, so lange an ihrem Text (ihrer Mail) formulieren, wie sie dafür brauchen. Sie können erst einmal überlegen, sortieren, reflektieren, Druck loswerden und schreiben, ohne dass sie durch die Reaktion des Gegenübers beeinflusst werden. Sie können selbstbestimmt und kontrolliert ihre Emotionen ausdrücken und fühlen sich stärker geschützt

Anonymität und Niederschwelligkeit

Menschen sehen es als Zeichen von Schwäche an, Hilfe zu suchen, ähnlich wie in dem oben aufgeführten Beispiel. Mailen ermöglicht es diesen Menschen jedoch, Hilfe in Anspruch zu nehmen, ohne ihre Identität preiszugeben. Dies reduziert die Hemmungen, da sie weder Angst haben müssen, ihr Gesicht zu zeigen, noch befürchten müssen, von jemandem direkt beurteilt zu werden. Sie können somit offener über ihre Ängste, Scham oder schuldbesetzte Themen schreiben. Die Anonymität des Internets kann als sicherer Raum dienen, besonders für diejenigen, die traumatische Erfahrungen gemacht haben, z.B. Frauen, die Gewalt erlebt haben. Diese Anonymität ermöglicht es über scham- oder angstbesetzte Themen zu schreiben und es somit auszusprechen.

Nähe durch Distanz

Das Mailen erlaubt, mehr als in allen anderen digitalen Formaten, die Kommunikation zu kontrollieren und senkt Hemmungen. Es ermöglicht leichter tabuisierte Themen anzusprechen, da die unmittelbare Reaktion des Gegenübers fehlt. Zudem sind die Schreibenden beim Verfassen allein und schreiben häufig offener über ihre Gefühle äußern. Das gilt auch für Sie, als Seelsorgerinnen und Seelsorger, daher ist es wichtig immer wieder darauf zu achten in der Rolle zu bleiben und nicht als Freundin oder Freund zu schreiben.

Schreiben zu jeder Tages- und Nachtzeit

Mailen ist zu jeder Tages- und Nachtzeit möglich. “Hallo! Es ist drei Uhr nachts. Das ist die Zeit, in der mein Wunsch, meinem Leben ein Ende zu setzen, am stärksten ist! So wie heute ist es fast immer in den letzten Wochen! Ich schwanke, ob ich es tun soll oder doch versuchen soll, da wieder rauszukommen! Doch um drei Uhr nachts ist das nicht so einfach, da sieht alles nur schrecklich aus!” schreibt Anja an die OnlineSeelsorge. Das Mailen in der Nacht kann eine Möglichkeit sein, seinen Ängsten Worte zu geben und sie somit vielleicht weniger bedrohlich, handhabbarer zu machen.

Schreiben als Ressource                                                                                                                

Schreiben dient als tonangebendes Werkzeug für Selbstreflexion und -verarbeitung, indem es Raum für die Verarbeitung emotionaler Krisen bietet und dabei hilft, Gedanken und Gefühle zu ordnen. Es ermöglicht emotionale Distanz, strukturiert Probleme, bietet eine visuelle Repräsentation der eigenen Gefühle und Gedanken, fördert das Selbstbewusstsein und kann als vorbereitendes Handeln dienen.

5. Sprachnachrichten als moderne Kommunikationsform

Ein weiteres Fallbeispiel betrifft den 16-jährigen Maximilian, der in einem kleinen, ländlichen Ort lebt. Die Familie ist sehr konservativ, der Vater führt eine eigene Firma und legt großen Wert auf das Bild einer “heilen” Familie. Maximilian hat eine tiefgreifende und beunruhigende Erkenntnis über sich selbst: Er ist transgender und lebt im falschen Körper. In der Familie und der Gemeinde, in der er lebt, ist dieses Thema jedoch tabu.

Mit niemandem, den er kennt, kann er darüber sprechen, und seine Angst, es seinen Eltern zu sagen, wächst. Eines Tages, als die Gedanken und Ängste ihn überwältigen, erinnert er sich an die Schulseelsorgerin, Frau Keller, die einmal in der Klasse war und betonte, dass sie erreichbar sei, egal welches Anliegen die Schülerinnen und Schüler haben.

Nach langem Zögern entscheidet sich Maximilian, ihr eine Sprachnachricht zu hinterlassen. Er stammelt, schluckt, findet kaum die richtigen Worte:

“Hallo Frau Keller, hier ist Maximilian aus der 10. Klasse. Ich… ich weiß nicht, wem ich das sonst sagen soll. Ich glaube, ich bin transgender und ich habe Angst, es meinen Eltern zu sagen. Sie sind sehr konservativ, und mein Vater… er würde das nicht verstehen. Können Sie mir bitte helfen?”

Die Sprachnachricht ist ein erster Schritt, ein Hilferuf. Frau Keller hört die Nachricht und fühlt die Dringlichkeit von Maximilians Anliegen. Sie schickt ihm ebenfalls eine Sprachnachricht und ruft ihn bewusst nicht an.

Frau Keller: Hallo Maximilian,

ich hab grade deine Nachricht gehört und finde es mutig, dass du dich traust, mir davon zu erzählen. Ich bin für dich da. Wenn du magst, können wir gemeinsam überlegen, welche Schritte für dich passen. Es gibt Fachstellen und Beratungsangebote, die dir helfen können und ich kann mir vorstellen, dich dabei zu unterstützen, den besten Weg für dich zu finden. Wir können später, wenn du dich bereit fühlst, auch überlegen, wie du vielleicht mit deiner Familie sprechen könntest – aber natürlich nur dann, wenn du das auch wirklich möchtest. Und ich kann auch bei dem Gespräch dabei sein, wenn du es willst.

Maximilian, du sollst wissen, dass du nicht allein bist. Ich stehe dir bei. Zögere nicht, dich wieder bei mir zu melden und denke daran: Du bist wertvoll, genauso wie du bist. Ganz liebe Grüße, Frau Keller

In den folgenden Wochen begleitet die Schulseelsorgerin Maximilian über Sprachnachrichten, hilft ihm, seine Gedanken zu ordnen, und unterstützt ihn dabei, einen Weg in eine Beratungsstelle zu finden und mit seiner Familie zu sprechen.

Dieses Beispiel verdeutlicht, wie auditive Kommunikationsmittel in der Seelsorge jungen Menschen helfen können, die in komplexen und herausfordernden Lebenssituationen stecken. Die Erreichbarkeit und Vertraulichkeit der digitalen Kommunikation ermöglicht es Maximilian, den Mut zu finden, einen Teil von sich zu akzeptieren und auszudrücken, den er bisher verborgen hielt.

Eigenschaften Sprachnachrichten

Vielleicht fragen Sie sich, was denn der Unterschied zum guten alten Anrufbeantworter ist. Weshalb brauchen wir Sprachnachrichten? Der Unterschied zum Anrufbeantworter ist, dass sich Menschen bewusst entscheiden, ihre Nachricht als Monolog aufzusprechen. Auf den Anrufbeantworter sprechen wir, wenn wir die gewünschte Gesprächspartnerin oder den Teilnehmer sofort sprechen möchten, sie oder ihn aber nicht direkt erreichen. Telefonate funktionieren in Echtzeit. Gesprochene Worte können korrigiert, aber nicht gelöscht werden. Sprachnachrichten sind beabsichtigt und kein Ersatz für das Telefonieren. Sie sind ein eigenständiges asynchrones Format in der Beratung und Seelsorge und weniger aufwändig als Schreiben, das vor allem bei längeren Mitteilungen von Vorteil sein kann, da der Redefluss nicht gestört wird. Zudem sind sie losgelöst von Zeit und Raum und von überall aus mit Hilfe des Smartphones zu nutzen. Sie sind das bevorzugte Medium der Jugendlichen. Die Möglichkeiten und Bedingungen sind nahezu gleich wie in der Mail-Beratung, allerdings ohne die Limitierung des Schriftlichen.

  • Menschen drücken sich anders und unmittelbarer aus, wenn sie sprechen. Dies ist für die Schilderung und das Aussprechen von Gefühlen für viele Menschen einfacher als Schreiben.
  • Sprachnachrichten ermöglichen es, Gefühle und Befindlichkeit einem anderen unmittelbar und sofort mitzuteilen.
  • Sprachnachrichten bieten mehr Kontrolle in der Kommunikation, denn ich habe die Möglichkeit, die Nachricht selbst nochmal abzuhören und kann mich dann entscheiden sie loszuschicken oder neu aufzusprechen.
  • Sprachnachrichten eignen sich auch zur Krisenintervention, wenn klar benannt ist, innerhalb welcher Zeit eine Antwort versandt wird.
  • Sprachnachrichten sind sicher und in den gängigen Messenger-Diensten mit Ende-zu-Ende-Verschlüsselung übertragen.

Die Kommunikation ist wie beim Mailen zeitversetzt; ich habe Zeit nachzudenken und kann meine Textnachricht zu jeder Tages- und Nachtzeit aufsprechen. Ich bin sicher, dass mich niemand unterbricht, meinen Gedankengang durcheinanderbringt oder ich Fragen beantworten muss. Ich kann komplexere Themen einfacher erklären, ohne zwischendurch etwas gefragt zu werden. Ich kann die Sprachnachricht so lange neu aufnehmen, bis es passt.

Eine Sprachnachricht aufzusprechen ist weniger zeitintensiv, als zu tippen. Sprechen geht schneller als Schreiben und Sprachnachrichten führen zu weniger Missverständnisse, da die Stimme mitschwingt und mehr Informationen preisgibt: Gefühle übertragen sich leichter als über Textnachrichten. Manche Menschen können so ihre Gefühle besser ausdrücken und finden diese Kommunikation persönlicher. Je mehr man berichten möchte, desto leichter ist es, einfach drauf loszusprechen.

Vielleicht kennen Sie sie das: Eine Freundin oder ein Freund hinterlässt Ihnen eine längere Sprachnachricht und endet mit den Worten: “Es tat einfach gut, dir das mal zu erzählen! Du brauchst nicht zurückzurufen.” Hier zeigt sich Ähnliches wie beim Schreiben:

  • Das Aufsprechen hat eine Entlastungsfunktion. Ich kann mir mein Problem von der Seele sprechen, verschaffe mir Raum. Beim Sprechen sortiert sich manches, ich habe wieder Luft zum Atmen und sehe Dinge anderes als vorher. Die Entlastung passiert schnell und unmittelbar, da auch das Aufsprechen und Verschicken von Sprachnachrichten an keine Geschäftsöffnungszeiten gebunden ist. Sprachnachrichten können immer wieder angehört werden und dienen der Erinnerung.
  • Das digitale Format bietet Menschen, deren Themen schambesetzt sind und die nicht in einen Dialog mit einem Gegenüber gehen können oder wollen, die Möglichkeit, ihre Not zu erzählen, da das Schreiben zu mühsam oder anstrengend ist. (Krankheit, Erschöpfung etc.).
  • Für Menschen, die nach einem Unfall den Gebrauch von Arm und Hand vorübergehend oder dauerhaft eingeschränkt haben, bieten Sprachnachrichten eine Möglichkeit zu kommunizieren.
  • Es unterstützt Menschen, die mit der deutschen Sprache im Schriftlichen nicht oder noch nicht vertraut sind, ihr Problem inhaltlich verständlich zu artikulieren, sowie Menschen mit primärem und sekundärem Analphabetismus.

Manchmal wird das Abhören einer Sprachnachricht als lästig empfunden, da wir den gleichen Zeitaufwand brauchen, der auch für das Verfassen benötigt wurde. Zudem kann es passieren, dass wir etwas akustisch nicht verstehen oder auch überhören. Sei es, weil undeutlich oder zu schnell gesprochen, Hintergrundgeräusche stören oder die Sprachnachrichten länger sind. Auch hier gilt: Fragen Sie nach, wenn Sie etwas nicht verstanden haben.

Wichtig ist, dass Sie die Medienwahl respektieren und nicht versuchen sofort zurückzurufen. Menschen suchen sich bewusst ein asynchrones Format aus und wollen auch erstmal in diesem begleitet werden.

6. Ein sicherer Ort im Netz: Suizidbegleitung via Chat bei der TelefonSeelsorge

Die anonyme und unmittelbare Unterstützung durch die OnlineSeelsorge kann in Krisensituationen lebensrettend sein, wie das folgende Fallbeispiel veranschaulicht. Anna, eine 22-jährige Frau, durchlebt eine besonders schwere Lebensphase und sie fühlt sich isoliert und hoffnungslos. Die Gedanken an Suizid werden immer präsenter, und sie weiß nicht, wohin sie sich wenden soll. In einem Moment der Verzweiflung entdeckt Anna den Chat der Telefonseelsorge. Ich gebe den Chat gekürzt wieder:

TS: Hallo! Mein Name ist Lutz und heute im Chat für dich da!

Anna: Hallo Lutz. Ich bin ziemlich verzweifelt ? und frage mich, ob alles Sinn macht.

TS: Das tut mir leid. ?Was fühlt sich für dich sinnlos an?

Anna: Kurz zusammengefasst: Ich bin erst 22, hab große Geldprobleme, eine sehr schwierige Familie und eine Essstörung und ich bin jetzt einfach mal ehrlich, weil ich es sonst niemanden sagen kann. Ich denke sehr oft darüber nach einfach vor den Zug zu springen und hab es nur nicht gemacht, weil ich mich zu sehr verantwortlich für meine Familie fühle.

TS: Kreisen deine Gedanken um Suizid oder die Sinnfreiheit deines Lebens?

Anna: Beides.

TS: Was beschäftigt dich aktuell am meisten?

Anna: Meine Suizidgedanken.

TS: Hast du über die Konsequenzen deines Suizids nachgedacht?

Anna: Ja, meine Familie wäre am Boden zerstört.

TS: Es klingt so, als fühlst du dich von deiner Familie belastet, aber gleichzeitig verantwortlich für sie.

Anna: Genau. Und in meinen schlechten Momenten will ich einfach, dass die Verzweiflung aufhört.

TS: Es kommt mir vor, als seist du eine große Nachdenkerin ?, die sich viele Gedanken macht und sich selbst vergisst. 

Anna: Ja, mein Gedankenkarussell ist schwer zu stoppen. Was soll ich tun?

TS: Vielleicht beginne damit, dir selbst etwas Gutes zu tun.

Anna: Das kann ich mir nicht erlauben.

TS: Aber du kannst davon träumen ?und vielleicht wird es irgendwann wahr.

Anna: Ja, das kann ich.

TS: Was wäre, wenn der Suizid nicht deine erste Option wäre? Gibt es andere Träume, die du verfolgen könntest?

Anna: Das Leben fühlt sich anstrengend an. Manchmal denke ich, dass der Himmel besser wäre.

TS: Aber vielleicht sind andere Träume es wert, für sie zu kämpfen. Du hast viele Stärken. ?

Anna: Danke, du hast mir sehr geholfen. ?. Gute Nacht.

TS: Gute Nacht und pass auf dich auf!

Dieses Beispiel zeigt die lebenswichtige Rolle der digitalen Seelsorge – in diesem Fall ein Chat. Die Möglichkeit, schnell und anonym Hilfe zu erhalten, kann in Krisensituationen einen entscheidenden Unterschied machen.

Eigenschaften Chatten

Chatten ist ein integraler Bestandteil unserer Kommunikation. Die Möglichkeit, mit Menschen aus allen Ecken der Welt in Echtzeit zu kommunizieren, ohne dabei physisch präsent zu sein, hat nicht nur unsere Art der Interaktion verändert, sondern auch die Dynamik von Nähe und Distanz neu definiert. Obwohl es wie eine einfache Form der Kommunikation erscheint, birgt das Chatten eine Vielzahl von Komplexitäten und Besonderheiten. In dem folgenden Abschnitt zeige ich die vielfältigen Eigenschaften des Chattens auf:

  • Chatten bietet sowohl eine äußere als auch innere Niederschwelligkeit. Für manche Menschen ist es der einzige Kontakt zur Außenwelt: “Mit 14 Jahren habe ich mit dem Chatten angefangen. Damals war das quasi mein einziger Kontakt zur Außenwelt, da ich eine ziemlich starke soziale Phobie hatte. Der Chat diente mir zum Wiedereinstieg, gab mir auf Dauer Selbstbewusstsein und verhinderte, dass ich komplett vereinsamte.” Schrieb mir ein junger Ratsuchender.
  • Beim Chatten entsteht eine paradoxe Situation: Nähe durch Distanz! Ratsuchende können besser kontrollieren, was sie nach draußen geben. Diese Distanz bewirkt, dass sich Menschen leichter trauen, Kontakt zur Beratungsstelle aufzunehmen: “Ich habe mir einen Chattermin geholt, weil ich nicht sprechen kann, naja, klar kann ich sprechen, aber irgendetwas ist in mir drin, das hindert mich. Tief in mir sitzt was und das verhindert, dass ich sprechen kann. Die Wörter bleiben mir im Hals stecken.” 
  • Im Chat kommen die Menschen sehr schnell zum Kern einer Sache. Vermutlich, weil man keine Stimme und kein Bild hat und anonym bleiben kann. Die Anonymität des Chats hat weitere Vorteile: Es melden sich mehr Menschen in Krisensituationen als über das Telefon, wo man auf eine Stimme trifft und die Scham, über heikle Themen zu sprechen, größer ist.
  • Für Chatseelsorgerinnen und Seelsorger ist dies Herausforderung. “Ich finde chatten zunehmend schwieriger, weil junge Leute manchmal recht krass einsteigen und nur wenige Informationen preisgeben” formuliert es eine Chatberaterin.
  • Beim Chatten kann innerhalb derselben Zeitspanne etwa nur etwa ein Viertel der Information eines mündlichen Gesprächs gesendet werden. Dadurch entsteht eine Verlangsamung. Was in der verbalen Kommunikation über die Stimme rüberkommt, muss beim Chatten geschrieben zum Ausdruck kommen. (Knatz & Schumacher 2019)
  • Beim Chatten entsteht eine Diskrepanz zwischen dem “vertrauenswürdigen” Text und dem Zweifel an der Authentizität der Chatterin oder des Chatters, bedingt durch die Anonymität, Pseudonymität und den eher saloppen Schreibstil beim Chatten.
  • Beim Chatten besteht ein gewisser Zeitdruck, in der vorgegebenen Zeit etwas zu schreiben. Die Wartezeiten zwischen Schreiben, Absenden und Lesen sind für manche Menschen schwer auszuhalten.
  • Chats sind durch die Synchronität einem Gespräch ähnlicher. Man hat schnell “mal eben was gesagt” und es ermöglicht sofortiges Nachfragen.
  • Chatten bietet sowohl ein one-to-one-Format als auch einen Gruppenkontakt, der ein Gespräch auch mit mehreren Beteiligten zulässt.
7. Seelsorge-Kompetenz im Fokus

In der digitalen Seelsorge müssen wir viele Dinge beachten, um sicherzustellen, dass die Begleitung sowohl von hoher Qualität als auch ethisch korrekt ist. Seelsorgende benötigen spezielle Ausbildungen und Methoden, insbesondere wenn visuelle und akustische Elemente fehlen. Es geht um das Lesen und Schreiben anstelle von Hören und Sprechen. Sprachnachrichten und Videoberatung erfordern ebenfalls Spezielle Kompetenzen. Des Weiteren braucht es:

  • Vertraulichkeit: Das Wahren der Privatsphäre und Vertraulichkeit (Seelsorgegeheimnis) ist von höchster Bedeutung. In der Onlineseelsorge muss sichergestellt werden, dass eine sichere und verschlüsselte Kommunikationsplattform verwendet wird.
  • Kompetenz: Da die digitale Seelsorge besondere Fähigkeiten und Kenntnisse erfordert, ist es wichtig, dass Seelsorgende in dieser Form der Kommunikation geschult sind und ihre Kompetenzen ständig erweitern. Die Möglichkeit, von überall aus Kontakt aufzunehmen, revolutioniert die Seelsorge und macht sie zugänglicher, erfordert aber auch Anpassungen und neue Ansätze von Seiten der Seelsorgenden.
  • Grenzen der Onlineseelsorge: Erkennen, wann die digitalen Formate nicht mehr ausreichen und persönliche Treffen oder spezialisierte Hilfe erforderlich sind.
  • Technische Anforderungen: Ein grundlegendes Verständnis und die Fähigkeit zur Fehlerbehebung von Technik sind notwendig, um Unterbrechungen oder technische Schwierigkeiten zu vermeiden.
  • Kulturelle Sensibilität: Ein Bewusstsein und Verständnis für kulturelle, soziale und individuelle Unterschiede sind wichtig, um effektiv zu beraten.
  • Gesetzliche Bestimmungen: Die Einhaltung von Gesetzen und Vorschriften, insbesondere in Bezug auf digitale Seelsorge, auch über Landesgrenzen hinweg.
  • Supervision und Selbstaufmerksamkeit: Regelmäßige Supervision und Reflexion der eigenen Praxis, um eigene Vorurteile, Gefühle und mögliche Übertragungs-/Gegenübertragungsprobleme zu identifizieren.
  • Notfallpläne: Im Falle eines akuten Notfalls (z.B., wenn jemand Suizidgedanken äußert) sollten klare Maßnahmen vorhanden sein.
  • Grenzen setzen: Es ist wichtig, klare Grenzen in Bezug auf Verfügbarkeit und Reaktionszeiten zu setzen, besonders wenn “Seelsorgesuchenden” die Möglichkeit haben, jederzeit Kontakt aufzunehmen.

Ob es um Sprachnachrichten, Videoberatung, Chatten oder Mailen geht, immer ist es eine Verbindung von digitaler Medientechnik und Kommunikationspsychologie.


Literatur zum Vertiefen

Knatz, B. (2022) Handbuch Internetseelsorge: Was Seelsorge und Tango verbindet. Grundlagen-Formen-Praxis, Bielefeld: Luther-Verlag.

Knatz, B., Dodier, B. (2021) Mailen, chatten, zoomen: Digitale Beratungsformen in der Praxis, Stuttgart: Klett-Cotta.

Knatz, B., Schumacher, S. (2019) Mediale Dialogkompetenz – Umgang mit schwierigen Gesprächssituationen am Telefon und im Chat, Springer Verlag.

Bei der Erstellung dieses Beitrags habe ich die Hilfe von OpenAI’s ChatGPT in Anspruch genommen.

Birgit Knatz, im September 2023

*Alle Beispiele sind anonymisiert.


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