von Sebastian Feder, Referent für E-Learning, EVHN | veröffentlicht am 14. August 2023
nach Psalm 85: BITTE UM NEUE LEHREN
Eine Bitte der Lernenden, vorzusingen.
HIRN, das du bist vormals gnädig gewesen deinem Bildungssystem
und hast erlöst die Lernenden Luthers
da du den Frontalvortrag vormals vergeben hast deinem Dozentenvolk
und all ihre Nürnberger Trichter bedeckt hast; – SELA –
das du vormals hast all deine Präsenzlehre fahren lassen
und dich abgewandt von der Begegnung deines Paukens:
Hilf uns, HIRN, unser Vernetztes,
und lass ab von deiner reinen Online-Lehre über uns!
Willst du denn ewiglich über uns streamen
und deine Digitalisierung walten lassen für und für?
Willst du uns denn nicht wieder erquicken,
dass Didaktik dir gerecht werden kann?
HIRN, zeige uns neue Lehrformen
und gib uns deine neuen Methoden!
Könnte ich doch hören,
was das Gehirn zum Lernen braucht,
dass es nachhaltige Entwicklung zusagte seiner Lerngemeinschaft und seinen Individuen,
auf dass sie weder in Unwissenheit noch Einsamkeit geraten.
Doch ist ja Hilfe nahe denen, die sich unsicher fühlen,
dass in unserm Herz Freude am Lernen wohne;
dass Papier und Computer einander begegnen,
Präsenz- und Online-Lehre sich küssen;
dass Bildung auf der Erde wachse
und Erkenntnis von der Lernplattform schaue;
dass uns auch das Gehirn Gutes tue
und unser Lernerfolg seine Frucht gebe;
dass Kompetenz vor ihm her gehe
und seinen Fortschritten folge.
Im Juni 2020, nach einem der ersten Tiefpunkte der Corona-Pandemie, verbunden mit Unsicherheiten, ungewohnten Einschränkungen, Ängsten, … erschien im Hochschulkontext ein offener Brief „Zur Verteidigung der Präsenzlehre“[1]. Schnell fand dieser Brief mehrere tausend Unterstützer*innen. In dem Text wird Hochschule als „Ort der Begegnung“, Studieren als „Lebensphase des Kollektiven“ und Lehre beruhend auf „kritische[m], kooperative[m] und vertrauensvolle[m] Austausch zwischen mündigen Menschen“ vorgestellt. Drei Aussagen, die wenig Diskussion bedürfen und jedem didaktisch reflektiertem Menschen sofort einleuchten.
Jeder dieser drei Punkte wird sodann in Konkurrenz zu Online-Lehre dargestellt:
Dem Online-Raum wird unterstellt, dass er nicht den Prozess der „diskursiven, kritischen und selbständigen Aneignung in der Kommunikation“ ermöglichen kann. Gemeinschaft könne „in virtuellen Formaten nicht nachgestellt werden“ und Gespräche ließen sich nicht „verlustfrei in virtuelle Formate übertragen“. Diese Thesen werden ohne Hinweise auf Quellen und in einseitig absoluter Gültigkeit formuliert.
Dass Präsenz- und Online-Lehre als Konkurrenz zueinander diskutiert werden, ist auch im kirchlichen Bildungsbereich immer wieder erlebbar. „Persönliche Bildungsbeziehung“ sei online nicht möglich – es brauche „reale“ Begegnungen.
Die Absolutheit all dieser Aussagen lässt aufhorchen. Es stellt sich die Frage, wieso das so erlebt oder zumindest wahrgenommen wird.
Es gibt hingegen Online-Methoden wie z.B. „Foren“, in denen aus technischer Sicht und didaktisch vielfältig Inhalte sinnvoll und tiefgehend diskutiert werden können (siehe z.B. Online-Kommunikations-Konzepte der Bildungs-Forscherin Gilly Salmon[2]). Gerade junge Menschen sind mit Online-Netzwerken vertraut und erleben dort auch Gemeinschaft. Bestimmt hat jede*r schon persönlich nahegehende Kommunikation online erlebt: Seien es Telefongespräche, die mit VoiceOverIP heute auch rein digital geführt werden. Oder Familien-WhatsApp-Gruppen, in denen Oma und Opa das Heranwachsen ihrer Enkel, egal in welcher physischen Entfernung, miterleben dürfen. Online ist kein Gegensatz, sondern Bestandteil unserer Realität.
Gewiss muss bei all diesen Online-Methoden die Qualität (inkl. möglicher Gefahren ausgewogen in Vor- und Nachteilen) diskutiert und beachtet werden. Gleiches gilt jedoch für jede didaktische Methode, egal ob on- oder offline.
In dem offenen Brief bleibt darüber hinaus offen, wo die Präsenzlehre überhaupt so angegriffen oder in Frage gestellt wird, dass sie in Ihrer Gesamtheit „verteidigt“ werden müsse.
Präsenz- und Online-Lehre müssen nicht gegeneinander ausgespielt werden. Vielmehr stellt sich die Frage, wie zeitgemäße und vor allem didaktisch sinnvolle Konzepte Präsenz- und Online-Methoden miteinander verknüpft werden können. Zu dieser Diskussion braucht es zweierlei: Kennen und Können der (neuen) Online-Methoden.
Wahrscheinlich ließen sich Anekdoten-Bände mit Erzählungen von gescheiterten Online-Seminaren der letzten Jahre füllen: Dass der 1,5-Stunden Frontalvortrag zum Abschalten (der Kameras) der Teilnehmer*innen führt liegt nicht an der Videokonferenzplattform: Oft mangelt es am Wissen über und Einüben von Beteiligungsmöglichkeiten (online). Dass ein Diskussionsforum online nicht in Gang kommt, kann an der Fragestellung und Moderation genauso liegen, wie an der Motivation der Teilnehmenden (die daraus resultiert). Die Dozierenden sind meist geisteswissenschaftlich ausgebildet und sollen sich auf einmal mit dem Einrichten von Online-Feedback-Bögen oder den Windows-Datenschutz-Einstellungen zur Freigabe von Mikrofon und Kamera auseinandersetzen. Da liegt nahe, dass Online-Lehre oft technisch schwer möglich ist – aber es heißt eben nicht, dass sie aus didaktischer Sicht gar nicht funktionieren kann.
Andererseits hat sich Präsenzlehre in den letzten Jahren Online-Methoden gegenüber geöffnet: Werbung für und Anmeldung zu Seminaren geschieht oft online (z.B. über evangelische-termine.de). Die Kommunikation mit den Teilnehmer*innen zwischen Präsenzterminen geschieht online via Mail, Dokumente werden über Cloud-Ordner ausgetauscht usw.
Auf der Ebene des „Kennens“ sollen hier daher einige Überlegungen vorgestellt werden, wie Online-Anteile die Präsenzlehre (weiter) bereichern und im Idealfall vereinfachen oder gar verbessern könnte:
– Die organisatorische Kommunikation mit und unter den Teilnehmer*innen kann in einem geschützten Online-Raum zum Seminar gebündelt an einem Ort stattfinden. Die Suche nach Informationen zum Seminar muss dann nicht mehr in meist unsortierten Mail-Postfächern erfolgen. Fragen von Einzelnen und die Antworten der Verantwortlichen stehen für alle Teilnehmenden bereit und müssen nicht mehrmals einzeln zur Verfügung gestellt werden.
– Materialen (Dokumente, Fotos) können unkompliziert inhaltlich kommentiert und eingeordnet werden. Sie stehen nicht mehr in reinen Datei-Laufwerken zur Verfügung, in denen nur der Dateiname über Inhalte mutmaßen lässt.
Die Dateien können auf Lernplattformen mit Arbeitsaufträgen („Lesen Sie bis zum nächsten Treffen …“ oder „Schauen Sie dieses Video unter der besonderen Fragestellung, wie …“) kombiniert werden.
– Eine Lernplattform bietet die Möglichkeit, die Vorerfahrungen und Erwartungen der Teilnehmer*innen zum Seminar rechtzeitig vor Seminarbeginn abzufragen. So stehen die Abfrage-Ergebnisse nicht erst am ersten Seminartag zur Verfügung, sondern können schon rechtzeitig in die Vorbereitung einfließen.
– Die Präsenz-Lehre kann in der Vermittlung von Theorie-Inhalten entlastet werden. Teilnehmer*innen können sich diese Inhalte selbstverantwortlich zu den Zeiten, in denen sie am besten aufnahmefähig sind und evtl. multimedial zum Lerntyp passend aneignen. Die Begegnung in Präsenz gewinnt dann Zeit für Diskussion, Einüben der Anwendung oder Vertiefung nach individuellen Interessen.
– Foren sind einfache technische Mittel, in denen inhaltliche Kommunikation und Diskussion innerhalb der Learning-Community funktionieren kann.
- Stellen Sie als Dozierende dazu konkrete Fragestellungen. Eröffnen Sie nicht ein Forum zur Diskussion aller Anliegen im Kurs, sondern mehrere Foren zu konkreten Anliegen: z.B. „Diskutieren Sie in diesem Forum Ihre wesentlichen Erkenntnisse zu den Theorien von XY“.
- Seien Sie als Dozierende in den Foren präsent – nicht 24/7 aber vielleicht zu vereinbarten und verlässlichen Zeiten. Geben Sie dann wertschätzendes Feedback: z.B. „Danke, dass Sie als Eisbrecher den ersten Beitrag geschrieben haben. Wie sehen das die anderen Teilnehmenden? Wo sind Sie mit diesen Aussagen einverstanden? Was schätzen Sie anders ein?“.
- Treten Sie also mehr als Moderator*in denn als Expert*in auf, um die Gruppe zur Mitarbeit zu motivieren.
- Stellen Sie als Expert*in Materialien zur Verfügung, damit sich die Teilnehmenden die Antworten zu Fragen selbst erarbeiten können, so wie es didaktische Konzepte auch für die Präsenzlehre empfehlen.
– Die Zusammenarbeit in der Gruppe der Teilnehmenden ist umso besser, je vertrauter sie sich sind / je besser sie sich kennen. Dazu können beispielsweise Online-Pinnwände (z.B. taskcards.de) hilfreich sein: Alle Teilnehmer*innen erstellen eine Online-Kachel, auf der sie sich unter bestimmten Gesichtspunkten und evtl. mit Foto untereinander vorstellen. So können evtl. schon im Vorfeld gemeinsame Interessen, Arbeitsschwerpunkte o.ä. identifiziert werden.
– Umfragen, Abstimmungen unter den Teilnehmer*innen oder gar individuelle Lernzielkontrollen können in entsprechenden Tools online vorgenommen werden. Dabei werden Ergebnisse schnell ohne weitere Auswertung visualisiert und je nach Einstellung individuell oder für die Gruppe sichtbar.
Diese Anregungen sind bei weitem nicht vollständig. Sie sollen exemplarisch dazu dienen, Potentiale von Lernplattformen aufzuzeigen. Online-Lernplattformen dienen also nicht dazu, Präsenzlehre zu ersetzen. Vielmehr bieten sie gerade für Seminare vor Ort neue methodische Erweiterungen, die je nach Bedarf eingesetzt werden können.
Weitere Anregungen, die fortlaufend ergänzt werden und Anleitungen zur Frage des „Könnens“ finden Sie im Online-Kurs „@präsenz: Online-Bausteine zur Bereicherung der Präsenzlehre“. In diesem Kurs wird jeweils dargestellt, wie die einzelnen Methoden exemplarisch auf der Lernplattform elkbLernen umgesetzt werden können. Daher ist als Grundlage der Online-Kurs „Einführung in elkbLernen“ empfohlen.
Innerhalb der ELKB wurden gerade in der Corona-Pandemie vielfältige Erfahrungen mit E-Learning(-Anteilen) gesammelt. In verschiedenen Vernetzungen zwischen den Akteur*innen werden diese gebündelt, ausgetauscht und reflektiert.
So kann zeitgemäße Lehre zwanglos – weder in reinen Online- noch Präsenz-Dogmen – weiterentwickelt werden. Sicher werden sich dann auch Inhalte und Seminar-Settings zeigen, die vor Ort besser funktionieren als auf einer Lernplattform – und genauso eben umgekehrt. In den meisten Fällen wird der bisherige qualitativ hochwertige Methoden-Mix schlichtweg durch neue (Online-)Bausteine erweitert werden.
[1] http://web.archive.org/web/20200617202326/https://www.praesenzlehre.com/ aufgerufen am 2023-05-31 (Original unter prasenzlehre.com nicht mehr online aufrufbar).
[2] https://www.gillysalmon.com
1 Kommentar
Dirk Wollenweber · 11. September 2023 um 08:15
Seit Corona haben wir unsere Ausbildungsveranstaltungen umgestellt. Wir vermitteln Fachwissen in wöchentlichen Onlineveranstaltungen und arbeiten an Personalkompetenz in regelmäßigen Tagesseminaren. Wir Dozierenden konnten feststellen, dass die Teilnehmer mit dieser Methode einen enormen Zuwachs an Kompetenz und Haltung bekommen haben.
Gerne berichten wir mehr.