Inga Schiffler, Expertin für barrierearme Kommunikation

Literatur ermöglicht, in fremde Welten einzutauchen. Aber der Akt des Lesens ist erst einmal ein hochkomplexer Vorgang, der für ungeübte Leser*innen eine enorme Kraftanstrengung bedeutet. Wie also schaffen wir trotzdem Lesefreude?

Der Schlüssel ist, das Lesen als kommunikativen Akt zu begreifen. Ich teile dafür beispielhaft meine Erfahrungen aus der Vorlese-Stunde: ein virtueller, inklusiver Lesekreis, in dem wir neben dem Lesen auch Empfindungen und Eindrücke austauschen. Und wir erleben, wie viel Freude das Erzählen und Zuhören bringt.

Wie alles begann …

Im April 2020 hatte ich die Idee, einen virtuellen Lesekreis in Einfacher Sprache zu gründen. Dazu hat mich zum einen meine Liebe zu Büchern in all ihrer Vielfalt gebracht. Ich habe schon immer alles verschlungen, was irgendwie lesbar ist. Zum anderen stieß ich als Expertin für barrierearme Sprache auf mehr und mehr gute Literatur in verständlicher Sprache: Literatur, bei der ich gar nicht bemerke, dass sie leicht formuliert ist. Im Frühjahr 2020 waren dazu durch die Pandemie mit einem Schlag so viele Dinge des Alltags nicht mehr möglich. Besonders betroffen waren Menschen mit Behinderung als potenzielle Risikogruppe.

Ein Vorbild für die Vorlese-Stunde waren die LEA® Leseklubs. Das vom KUBUS e.V. erdachte Konzept habe ich bei einem Workshop kennengelernt: Mittlerweile 50 Leseklubs von Menschen mit und ohne Behinderung treffen sich regelmäßig an einem öffentlichen Ort, um gemeinsam zu lesen. Auch dies war 2020 natürlich coronabedingt nicht mehr möglich.

Die Idee bei der Vorlese-Stunde war also: Ganz unterschiedlichen Menschen ein Literaturerlebnis verschaffen – und bestenfalls ein Gemeinschaftsgefühl dazu.

Die Vorlese-Stunde: eine Erfolgsgeschichte

Heute, fast drei Jahre später, kann ich sagen: Die Vorlese-Stunde hat alle Erwartungen übertroffen. Immer montagabends kommen Menschen aus dem gesamten deutschsprachigen Raum zusammen. Sogar aus Italien, Spanien und Lettland haben sich schon Menschen zugeschaltet. Manche haben eine Behinderung, andere nicht. Einige lernen Deutsch seit Kurzem, andere bereits ihr Leben lang – denn auslernen tut man ja nie. Ganze Wohngruppen waren schon dabei. Lesungen mit Kristof Magnusson und Alexandra Lüthen sorgten zwischendrin für Eventcharakter.

Jury für Schreibwettbewerbe

Zweimal im Jahr fungiert die Vorlese-Stunde zudem als Jury, und zwar in diesem Jahr bereits zum vierten Mal für den Wettbewerb „Kunst der Einfachheit“ (organisiert von der Lebenshilfe Berlin) und zum zweiten Mal für den Wettbewerb für Literatur in Leichter Sprache von Capito Wien. Für die Vorlese-Stunde heißt das: Jede Geschichte wird bewertet („Daumen hoch“, „Daumen zur Seite“ und „Daumen nach unten“). Diese Aufgabe bringt Dynamik und macht allen großen Spaß.

Struktur durch vier Phasen

Es hat sich eine Dauer von einer Stunde bewährt. Diese Zeit teilt sich in vier Phasen:

1. Ankommen (5-10 Min.)

Der lockere, persönliche Austausch stärkt unser Gruppengefühl und baut Hemmungen ab.

2. Lesen (20-30 Min.)

In dieser Phase teile ich meinen Bildschirm, so dass alle denselben Text sehen. Wer mag (und die meisten mögen allzu gern), liest einen Abschnitt laut vor. Wichtig ist dabei, dass niemand verbessert wird – es sei denn, er*sie fordert es explizit. Denn nicht die Leseförderung, sondern der Spaß am gemeinsamen Literaturerleben steht bei uns im Vordergrund.

3. Zusammenfassen (10-15 Min.)

Nach dem Lesen rekapitulieren wir zunächst das Gelesene. So schaffen wir ein kollektives Verständnis des Textes und damit auch eine gemeinsame Gesprächsgrundlage. Hier bemühe ich mich, dass sich die Teilnehmenden zunächst wirklich aufs Zusammenfassen beschränken („Bevor du deine Meinung sagst: Worum ging es in der Geschichte?“). Hier wird fast immer deutlich, dass der Inhalt sehr unterschiedlich ausgelegt wird.

4. Bewerten (10-15 Min.)

Der nächste Schritt ist dann, die eigenen Gedanken zum Text einzubringen („Wie findet ihr die Geschichte?“). Manchmal dreht sich die Diskussion allein um den Inhalt, manchmal geht es auch um die Sprache. Habe ich den Eindruck, es wird zu technisch oder wir schweifen zu stark vom Thema ab, greife ich ein. An anderen Stellen lasse ich dem Gesprächsfluss seinen Lauf – je nach Gefühl. Die Diskussionen sind rege, meist auch persönlich, manchmal sogar emotional. Und immer bereichernd.

Die Auswahl der Texte

Einige Leser*innen sind jede Woche dabei, andere stoßen in unregelmäßigen Abständen dazu. Deshalb ist Bedingung, dass alle Texte innerhalb eines Treffens gelesen werden können. Ansonsten sind wir sehr offen, von klassischen Märchen über Gedichte bis hin zu Zeitungsartikeln war schon alles dabei. Sprachlich sind die Texte mal bereits in leicht verständlicher Sprache geschrieben, mal von mir oder einem anderen Mitglied der Vorlese-Stunde adaptiert. Wichtig ist mir: Die Texte dürfen ruhig fordern, aber nicht überfordern.

Kommen Sie doch mal vorbei!

Im Laufe der Zeit hat sich eine beständige Gruppe gebildet, die sich mit viel Freude über Literatur, aber auch eigene Erlebnisse und Erfahrungen austauscht. Inklusion geschieht hier ganz nebenbei und selbstverständlich. In der Gemeinschaft wird darauf achtgegeben, dass alle teilhaben können – egal, ob beim Lesen oder bei den anschließenden Diskussionen.

Die Vorlese-Stunde bereichert uns alle: Versierte Leser*innen stellen fest, wie viel Tiefgang einfache Worte vermitteln können, andere fühlen sich ermutigt, auch auf eigene Faust weiterzulesen (mir geht jedes Mal das Herz auf, wenn mich Teilnehmende bitten, sie bei einer Buchbestellung zu unterstützen). Die tollen Kurzgeschichten zeigen uns, dass es nicht immer dicke Wälzer sein müssen. Doch am allerwichtigsten ist: Die Vorlese-Stunde schafft einen Raum des geselligen Beisammenseins, den wir in Zeiten physischer Isolation, aber auch nach der Pandemie nicht missen möchten. Wir alle freuen uns immer auf die schönen Montagabende.

Schauen Sie doch mal vorbei! Vielleicht bekommen Sie Lust und Ideen für eine eigene Leserunde. Oder Sie bleiben bei uns – Sie wären nicht der*die erste ;).

Mehr Infos unter: https://www.inga-schiffler.net/vorlese-stunde


Zum Schluss eine Geschichte …

Die Wollsocke

– von Inga Schiffler –

Bei Oma

Das Telefon klingelt.

Meine Oma geht langsam in den Flur.

Einen Schritt nach dem anderen.

Das Gesicht verkniffen vom Schmerz.

Aber sie sagt nichts.

Sie will sich nichts anmerken lassen.

Sie beugt sich etwas vor.

Sie stützt sie sich auf dem Telefontisch ab.

Mit der anderen Hand nimmt sie das Telefon vom Ladegerät.

Jemand spricht.

Oma antwortet:

„Wir kommen sofort. Danke für den Anruf.“

Sie legt auf und kommt zurück in die Küche.

Meine Tante und ich sitzen am Frühstückstisch.

Oma sagt:

„Das war das Krankenhaus.

Wir sollen kommen.

Opa macht es nicht mehr lang.“

Meine Tante und ich stehen auf.

Wollen schnell los.

Aber Oma stellt sich in den Weg.

Sie stützt sich schwer auf den Küchentisch.

Die Küche ist so klein.

Wir kommen nicht an der dicken Oma vorbei.

„Die dicke Oma“.

So nennt sich Oma oft selbst.

Dann lacht sie laut und fröhlich.

Der große Busen wackelt.

Aber jetzt lacht Oma nicht.

Sie sagt:

„Ihr müsst erst mal frühstücken.

So könnt ihr nicht los.“

Sie meint uns.

Nicht sich selbst.

Sie selbst isst kaum etwas.

Jetzt nicht.

Und auch sonst nicht mehr.

Nur Schokolade, die muss sein.

Oma sagt:

„Auf die 5 Minuten kommt es jetzt auch nicht mehr an.

So viel Zeit muss sein.“

Wir essen jede unser Brötchen auf.

Denn Oma widerspricht man nicht so leicht.

Im Krankenhaus

Endlich fahren wir los.

Das Krankenhaus ist in einer anderen Stadt.

Es schneit.

Meine Tante fährt so schnell sie sich traut.

Bei dem Wetter.

Wir sind da.

Das Krankenhaus liegt vor uns.

Ein großer, grauer Klotz.

Schnell gehen wir hinein.

Oder besser:

So schnell, wie Oma kann.

Auf der Station sagt man zu Oma:

„Ihr Mann ist leider vor 10 Minuten verstorben.“

2 Jahre war ich nicht hier.

War weit weg im Ausland.

Immer zu beschäftigt mit mir selbst.

Und jetzt konnte ich mich nicht einmal mehr von Opa verabschieden.

Wegen eines Brötchens.

Ich fühle mich kurz schuldig.

Ein kurzer Stich in der Brust.

Aber jetzt ist keine Zeit zum schuldig fühlen.

Wir gehen schnell zu Opas Zimmer.

Eine Schwester sitzt neben seinem Bett.

Die Schwester sagt:

„Ich wusste nicht, ob er gläubig ist.

Deshalb habe ich ihm Weihnachtslieder vorgesungen.

Passend zur Jahreszeit.“

Ich bemerke das Liederbuch in ihrem Schoß.

Meine Tante weint.

Meine Oma nicht.

Sie redet mit der Schwester.

Hat alles im Griff.

Mein Blick fällt auf die Blume:

In Opas Händen steckt eine gelbe Gerbera.

Ich frage mich:

Ob die Schwestern die Blumen auf Vorrat lagern?

Dann denke ich:

Ich sollte jetzt an Opa denken.

Wieso denke ich überhaupt?

Sollte ich nicht fühlen?

Sollte ich nicht traurig sein?

Ich schaue in Opas Gesicht.

Ich sage:

„Er sieht gar nicht wie Opa aus.

So glatt.“

Meine Tante sagt:

„Bei der Hirn-OP haben sie alles schön straff gezogen.

Ein richtiges Lifting.

Alle Falten sind weg.

Schade drum.“

Meine Tante schluchzt auf.

Eine zweite Schwester kommt ins Zimmer.

Sie hält eine Liste in der Hand.

Sie sagt:

„Ich muss leider stören.

Ich muss aufschreiben, welche Sachen er dabeihatte.“

Meine Oma öffnet den Schrank.

„2 Schlafanzüge“, sagt sie.

Und dann:

„5 Socken.“

Wir schauen uns an.

5 Socken?

Das geht ja gar nicht auf.

Es fehlt eine Wollsocke.

Von Oma selbst gestrickt.

Oma hat eine Idee.

Sie sagt zu mir:

„Schau mal unter der Decke nach.

Vielleicht hat er die Socke noch am Fuß.“

Ich klappe die Decke zur Seite.

Da liegen seine Füße.

Klein und zart.

Ein Fuß ist nackt.

Eine Infusions-Nadel steckt in ihm.

Am anderen Fuß, die Wollsocke.

Oma hatte Recht.

Oma sagt:

„Die ist doch noch gut.

Die kann doch noch jemand auftragen“.

Und dann:

„Da, wo er jetzt hinkommt, ist es doch warm genug.

Er wird doch verbrannt.

Dabei braucht er keine warme Wollsocke.“

Wir müssen lachen.

Es fühlt sich gut an.

Das geht noch.

Trotz allem.

Oma sagt zu meiner Tante:

„Zieh Opa mal die Socke aus.“

Aber meine Tante will nicht.

„Das schaffe ich nicht“, sagt sie leise.

Auch Oma mag nicht.

Nicht mal sie.

Also ziehe ich die Socke von Opas Fuß.

Die ganze Zeit hatte ich alles wie von außen gesehen.

Opa im Bett.

Meine Oma, meine Tante und mich daneben.

Mein Kopf war voller Gedanken.

Ich hatte gedacht:

Eigentlich sollte ich jetzt traurig sein.

Wieso fühle ich nichts?

Bin ich etwa kalt und abgestorben?

Aber jetzt ziehe ich die Socke von Opas Fuß.

Ich muss sein Bein etwas anheben.

Jetzt fühle ich:

Das ist wirklich Opa.

Er ist tot.

Für immer.

Das ist keine faltenlose Schaufensterpuppe.

Ich fange an zu weinen.


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