von Dr. Jana Funk, Studienleitung für politische Bildung, Evangelisches Bildungszentrum Bad Alexandersbad

“Es heißt ja neuerdings, wir lebten in postfaktischen Zeiten.
Das soll wohl heißen, die Menschen interessieren sich nicht mehr für Fakten, sie folgen allein den Gefühlen.”

Angela Merkel (2016)

Die Aussage von Angela Merkel hat nicht nur den Begriff postfaktisch als direkte Übersetzung aus dem Englischen post-truth (vgl. Keyes, 2016) der deutschsprachigen Öffentlichkeit zugänglicher gemacht, sondern liefert auch gleichsam Anlass für diese reflektierenden Zeilen. In Seminaren über Verschwörungsmythen und dem Umgang damit, ist mir oft der Begriff “postfaktisch” begegnet, als eine Beschreibung der Zeit in der wir leben. Postfaktisch als Zeitdiagnose sozusagen.
Die Intuition, die sich hinter dieser Diagnose zu verbergen scheint, wird auch durch die Aussage von Angela Merkel zum Ausdruck gebracht: Wir stecken als Gesellschaft in einem tiefen Kulturwandel, der besorgniserregend ist.
Dieser Wandel zeigt sich darin, dass die gesellschaftliche Orientierung durch Rationalität und Vernunft immer brüchiger wird, durch eine emotionale Orientierung unterwandert und schrittweise abgelöst wird. Entsprechend der Devise: weg mit der sachlich rationalen Realität, die gefühlte Realität ist die wahre Realität.
Grundsätzlich teile ich diese Intuition des Wandels, doch bei genauerer Betrachtung kommt es mir gleichsam so vor, als könnte die Beschreibung des Kulturwandels ebenso ein Teil einer gefühlten Realität sein. Das hieße nichts anderes, als dass die Diagnose “postfaktisch” selbst ein Gefühl ist. Das könnte dann unbeabsichtigt wieder eine Bestätigung der Diagnose sein.
Aber damit drehen wir uns gewissermaßen im Kreis.

Um den Kreis zu verlassen, fällt mir ein Zitat ein, dass ich vor einigen Wochen in einem Buch gelesen habe: “Fakten sind wie Kühe, wenn man ihnen scharf genug in die Augen schaut, rennen sie im Allgemeinen weg.” (vgl. Sayers, 1927; in Hepfer, 2021)
Vielleicht bringt uns dieses Bild aus dem Kreis hin zu einem anderen Blick auf den Begriff “postfaktisch” – denn es sind ja nicht nur die neuen gefühlten Realitäten, welche in der Beschreibung des “Postfaktischen” eine Rolle spielen, sondern es sind ja tatsächlich die guten alten Fakten selbst. Wenn es postfaktische Zeiten geben soll – ob gefühlt, oder rational – dann muss es ja auch einmal faktische Zeiten gegeben haben. Zeiten also, in welchen begründete Tatsachen die Grundlage gesellschaftlicher Wahrnehmung und Orientierung waren. Die guten alten faktischen Zeiten. Ungut nur, wenn es diese guten alten faktischen Zeiten nie gegeben hat. Und genau dies anzunehmen, scheint plausibler, als die Ankündigung des postfaktischen Zeitalters.
Zum einen ist das politische Spiel mit den Gefühlen der Menschen keine Erfindung der postfaktischen Zeiten. Gefühle sind Teil des öffentlichen Lebens, des öffentlichen Diskurses und der Politik. Dies ist auch nicht per se normativ zu beurteilen, sondern ist einfach so wie es ist. Natürlich ist der Einfluss von Emotionen auf die öffentliche Meinungsbildung und auf politische Entscheidungen kritisch bedenkenswert, aber eine Grundlage für “postfaktisches” politisches Denken und Handeln scheint es nicht zu sein. Wenn, dann zumindest nicht einfach. Dass Politik Gefühle weckt und von diesen auch lebt, ist nämlich nicht schon an sich böse, oder gefährlich.
Zum anderen ist auch der Umgang mit Fakten kaum jemals faktisch gewesen. Was ist ein Fakt und was ist die Wirklichkeit? Bei diesen Fragen fängt es eben bereits an knifflig zu werden, denn die Wirklichkeit ist doch weit mehr als das, was wir als Menschen direkt erfahren und beschreiben können. Zudem stützt sich unsere je eigene Version von der Wirklichkeit auch sicher nicht nur auf direkte überprüfbare Informationen, sondern auf Annahmen, die meist unhinterfragt vorausgesetzt werden. Auch das ist einfach so wie es ist – weil es schlicht nicht anders zu handhaben ist. Wir können in unserem Leben nicht alle Bestandteile der eigenen Wirklichkeit wissenschaftlicher Plausibilität unterziehen. Im Alltag verlassen wir uns alle auf unsere jeweilige “gefühlte” Realität.
Ob wir also wirklich jemals in faktischen Zeiten gelebt haben, sei dahingestellt. Mir erscheint es vielmehr eine schöne Erzählung zu sein.
Was aber natürlich eine gefährliche Entwicklung des politischen Diskurses ist, ist das wissentliche Streuen von falschen Fakten – etwa die Brexit Kampagne, oder der Wahlkampf von Donald Trump (um zwei zugespitzte Beispiele zu wählen). Es ist wichtig, gerade junge Menschen dahingehend zu schulen, Fakten von falschen Fakten unterscheiden zu können und ihnen zu vermitteln, welche Quellen vertrauenswürdig und welches Methoden wissenschaftlicher Untersuchungen und solider Wissensproduktion sind. Es ist auch wichtig, sich kritisch mit den Filterblasen und Echokammern des digitalen Raums zu beschäftigen. Denn sicherlich hat die Möglichkeit der Verbreitung von falschen Fakten und von Resonanzräumen, welche diese bestärken, durch die sozialen Medien und den massiven Zuwachs der digitalen Kommunikation zugenommen. Kritisches Bewusstsein und Medienkompetenz sind somit wichtige Elemente einer zeitgemäßen politischen Bildung. Doch auch das macht die Zeiten, in denen wir leben, nicht zu postfaktischen Zeiten. Ob die Diagnose “postfaktisch” also selbst ein Gefühl ist, können wir nicht endgültig beantworten. Doch es schadet bestimmt nicht, wenn wir anstatt der Postfakten und der Gefühle, mal die Fakten selbst in den Blick nehmen. Denn, wenn wir diese näher anschauen, dann rennen sie womöglich wie die Kühe weg. Und wo keine Fakten, da auch keine Postfakten.


Literatur

Hepfer, Karl (2021): Verschwörungstheorien. Eine philosophische Kritik der Unvernunft. Transcript Verlag.
Keyes, Ralph (2004): The Post-Truth Era: Dishonesty and Deception in Contemporary Life. St. Martin’s Press.

Kategorien: Bildung

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